richblog 026: Advent! Advent!

2017-12-07


Wie’s denn wäre, mal einen gemeinsamen literarischen Adventskalender zu basteln, erkundigte sich im Herbst die Autorenkollegin Katja Zuz im Autorenforum auf facebook; es solle sich doch jede*r Interessent*in ein Datum aussuchen, also ein Türchen, hinter dem sich dann eine Kurzgeschichte verberge.

     »Och, schöne Idee«, dachte ich, »da könnte ich doch eigentlich mal mitmachen.«

     Bewarb mich und bekam tatsächlich das gewünschte Türchen – für den 7. Dezember. Ein Datum, zu dem ich natürlich seit geraumer Zeit eine kleine Geschichte in petto hatte …


Tom Waits & ich


Tom waits. … Ach, nee, ist ja ’n deutscher Adventskalender – also: Thomas wartet.

     Thomas wartet wahrscheinlich längst auf mich. Thomas und Veedelnoh und Oblong und Emerson. Vielleicht sogar die drei Mädels aus Thomas’ WG, in der wir heute übernachten können. Vielleicht sogar mit denen. Aber es gibt Tage, da kann ich sie alle einfach nich’ mehr sehen. Gibt so Tage, da muss man mal raus, raus aus dem ewigen Rudel. Es ist Dezember; wir haben in diesem Jahr 159 Gigs gespielt. 159mal morgens in den Bus, der uns zwei bis neun Stunden zur nächsten Stadt fährt, 159mal den ganzen Klumpatsch ausladen, 159mal Soundcheck, 159mal ein paar Stunden abhängen, an irgendeiner Tischtennisplatte, einem Billardtisch, einem Flipper, einer Theke, 159mal umziehen in einer hässlichen, zu kleinen Garderobe, 159mal raus auf die Bühne, 159mal den Arsch ab und den Laden an die Erde gespielt, nach 159 Zugaben wieder umgezogen – raus aus den einen stinkigen Klamotten, rein in die anderen stinkigen Klamotten –, 159mal zusammen irgendwo versackt, 159mal zusammen in irgendeinem Zur Post, Zum Ochsen, Zum Adler oder in irgendeiner WG gelandet, 159mal das Frühstück verpennt, 159mal verkatert wieder in den Bus… Und bevor das alles losging, haben wir noch mindestens fuffzehn Mal geprobt. Und mindestens zwanzig Mal besprochen, was wir überhaupt proben sollen. Oder müssen. Oder wollen.

     Ich muss mal alleine sein. Gerade heute.

     Erste Kneipe links heißt unsere Devise, wenn irgendwas uns mal in einer fremden Stadt verstreut – der eine muss mal zur Post, der andere zur Bank, der dritte in eine Frittenbude; hier geben zwei irgendjemandem ein Interview, da muss einer neues Dope besorgen, dort braucht einer mal ein Stündchen länger, um sich von einer Gastgeberin zu verabschieden; oft genug gibt es gerade nach dem Gig großes Durcheinander – der eine zieht sich noch um, während zwei andere schon an der Theke sitzen und baggern und wieder andere bereits die Unterkunft bei einer neuen Gastgeberin begutachten …

     Aber wenn man so lange und so exzessiv auf Tour ist wie wir von Penner’s Radio, dann entwickelt man ein Gespür für die richtigen und die falschen Kneipen. Erste Kneipe links ist, zumindest für den Anfang und zum Sammeln, meistens der richtige Tipp. Wobei man das natürlich nicht allzu wörtlich nehmen darf. Die Erste Kneipe links kann durchaus auch die dritte sein – da braucht’s dann eben das nach vielem, oft mühseligen und teurem Versuch & Irrtum entwickelte Gespür. Man kommt raus auf die Straße, guckt links und rechts, geht in die Richtung, in der die Straßen und Häuser schäbiger, die Leuchtreklamen billiger und funzeliger werden, und marschiert eventuell sogar an fünf Kneipen vorbei, ehe an der Ecke einer Seitenstraße die Tournase juckt: Erste Kneipe links. Wie oft bin ich dann da schon durch die Tür gekommen und gleich von großem Hallo und Da isser ja endlich! empfangen worden; wie oft saß ich da schon vor drei langsam schal werdenden Bieren an der Theke, wenn Veedelnoh und Emerson endlich auftauchten …

     Heute lasse ich das, was ganz klar nach Erste Kneipe links aussieht, links liegen, biege rechts ab und latsche noch drei Blocks weiter, biege noch mal rechts ab – und muss mich schon fragen, ob meine Antenne nach 159 Treffern in diesem Jahr vielleicht schon etwas gelitten hat: Weit und breit keine Leuchtreklame mehr, nur ein finsterer Backstein-Mietbunker neben dem anderen, mit ein paar gelegentlichen fernseh-blau flackernden Fenstern. Kann doch gar nicht sein, denke ich, wir sind doch hier in Bremen – oder war es Karlsruhe? Osnabrück? Ich biege noch mal ab, diesmal links. Reihenhäuser. Die ärmliche, 30er Jahre Genossenschafts-Sorte. Unschlüssig bleibe ich stehen. Wieder zurück latschen? Mir ist kalt. Vielleicht mal jemanden fragen. Aber wen? Kein Schwein auf der Straße. Totenstille. Düren?

     Da kommt ein Windstoß auf und weht mir ein paar Musikfetzen ans Ohr. Klingt wie Jessica von den Allman Brothers. Vielleicht nur eine Party irgendwo, privat, vielleicht bloß ein Autoradio. Muss ich riskieren. Ich gehe dem Klang nach, muss noch einmal links abbiegen. Straßenbahngleise, eine Sportanlage, ein Holzschuppen. Eine Bierreklame. Ein verschämter, flackernder Neon-Namenszug: Kuckucksnest. Zwei Motorräder vor der Tür. Und Jessica, ganz klar. Hallelujah, praise the Lord. Ich atme noch mal tief durch und gehe rein.

     Wie so oft, merke ich erst nach dem Gang durch die frische Luft und im Dunst der nächsten Kneipe, dass ich gar nicht mehr so viel brauche, um lecker einen im Tee zu haben. Natürlich haben wir uns, wie üblich, vor dem Gig mit ein paar Flaschen Bier aufgewärmt, natürlich musste während des Gigs der Flüssigkeitsverlust durch die Schwitzerei mit ein paar weiteren Flaschen aufgefangen werden, und natürlich ist das erste, was man nach der Zugabe in der Garderobe macht, sich eine wohlverdiente kalte Pulle an den Hals zu setzen.

     Hatte ich auf meinem Marsch durch … Hannover? Ingolstadt? Nein, wir müssen im Norden sein – Jever Pils sagte die Reklame draußen – hatte ich draußen in der schneidenden Kälte jedenfalls gar nicht gemerkt. Ist aber auch wurscht – es ist halb zwölf, und ich hab’ mir was vorgenommen. Und wie man sieht, funktionieren meine Antennen noch bestens.

     Hoffe ich. Erst mal überlege ich, ob der Kuckuck ein Zugvogel ist und im Süden überwintert – sein Nest jedenfalls ist quasi leer. Gerade mal drei Gestalten hängen an einer Theke herum, die für mindestens zwanzig Zecher gebaut ist. Tatsächlich gebaut – aus Backsteinen, grob verputzt, und oben drauf sind gehobelte Schalbretter gedübelt, die aussehen, als hätten sie vor der Eröffnung tatsächlich schon auf einer Baustelle gedient. Die Wände schwarz gestrichen, von bunten Spots angestrahlt eine Serie Wildwestfilmplakate, von Zwölf Uhr mittags über Für eine Handvoll Dollar bis Pale Riders, schön chronologisch.

     Zwei der drei Gäste knutschen am Nordende der Theke um eine Flasche Sekt herum, der dritte steht am Äquator, wirbelt eine verschwitzte grau-weiße Mähne durch die Gegend und spielt Luftgitarre zu Chuck Leavells Piano-Solo. Hinter dem Tresen feilt sich mein rettender Engel die Nägel. Zumindest hoffe ich, dass sie mein rettender Engel ist und nicht gleich hochguckt und »Feierabend!« kräht.

     Sie denkt gar nicht daran hochzugucken – Jessica dröhnt so laut durch den Laden, dass sie wahrscheinlich gar nicht gemerkt hat, wie jemand reingekommen ist. Ich pflanze mich auf einen Hocker am Südende. Von da aus kann ich auch sehen, dass das Nest so leer gar nicht ist – es gibt ein Hinterzimmer, wo ein paar Lederjacken um einen Billardtisch herumlungern. Quasi am Brummen, der Laden.

     »Kuckuck!« rufe ich in Chucks Break hinein. Die Feile stoppt, der rothaarige Engel hebt den Kopf. Die größten und grünsten Augen, die ich je gesehen habe, leuchten mich an, als sei ich ein weiteres Filmplakat. Auch ihre brown eyes sind von beeindruckendem Format. Eigentlich alles an ihr, außer der grünen Bluse und dem schwarzen Lederrock.

     Ich kenn dich nich’, sagen die Augen, und meistens gefällt es mir nicht, wenn hier Langhaarige in Lederjacken, die ich kenne, und Langhaarige in Lederjacken, die ich nich’ kenne, aufeinandertreffen, sagen sie. Und dich kenn’ ich nich’, vielleicht sprechen wir nicht mal dieselbe Sprache, sagen sie.

     Aber ich bin ja Kosmopolit. Ich lächele sie an, mache den Mund auf und tippe mir dreimal mit dem Zeigefinger auf die Zunge: Durst. Nur ganz zart andeutungsweise verdreht sie die schönen Augen, dreht den Kopf und guckt sich erst fünf Sekunden die drei Hähne an der Zapfsäule an, dann wieder fünf Sekunden mich. Jessica kommt auf der Zielgeraden noch mal richtig auf Touren. Der Luftgitarrenspieler sieht aus, als würde er gleich abheben. Oder umkippen. Grünauge nimmt sich ein Pilsglas und lässt pures Gold hinein schießen. Dann wirft sie einen weiteren kurzen Blick zu mir herüber – und zapft gleich ein zweites an. Eine Fachkraft. Während der Schaum sich langsam und feierlich senkt, schaut sie missmutig auf die Feile, wirft sie in eine Schublade unter dem Schnapsregal, zieht an einer Kippe, die in einem Aschenbecher daneben vor sich hin kokelte, und trinkt einen letzten, gelblichen Schluck aus einem Rialtobecher. Dann macht sie das erste Pils fertig, klackert auf goldenen Stöckels zu mir rüber und stellt es vor mir auf einen Deckel.

     »’n Ahmd«, sagt sie und hüllt mich in eine Wolke Ecstasy.

     »Super«, sage ich und nicke zu dem leeren Rialtobecher hin. »Und noch einen Wodka-O?« Wieder leuchten die riesigen grünen Augen mich an, immer noch ohne merklichen Ausdruck. Aber eine sorgsam zurecht gezupfte linke Augenbraue hebt sich, cirka vier Millimeter weit.

     »Warum auch nich’?«, sagt sie und stöckelt wieder weg. Auch Jessica verabschiedet sich, warum auch nicht, nach 7 Minuten und 30 Sekunden.

     »He, Kaddy, mach mir au’ no’ eins!«, schreit der Luftgitarrenspieler und strahlt über beide Backen. »Was ’ne Band, wa?«, schreit er zu mir rüber. Die Allman Brothers lassen sich nicht lumpen und bringen nahtlos den Ramblin’ Man in die Gänge. »Jau!«, johlt der Grauhaarige. Ein Altfreak. Eine Matte bis zum Arsch, ein Backenbart bis zum Zwerchfell, kein Fleisch auf den Rippen und ein Jeansanzug, der aussieht wie Ende der 60er selbst genäht. Er grabscht sich einen ledernen Tabaksbeutel von der Theke, dann stutzt er und guckt sich mich mit zusammengekniffenen Augen noch mal genauer an. Dann reißt er sie weit auf. »Mensch! Eure aber auch, wa! Echt goil, Alter! He, Kaddy, das is’ deä Schlachzeugä! Von hoide ahmd! Mann, ey! Supä!«

     Ja. Super. Ich suche mir, um mal einmal meine Ruhe zu haben, die hinterletzte Kaschemme in diesem Kaff aus, es ist fast kein Mensch drinnen – und was treffe ich? Einen Penner’s Radio-Fan. Gut, dass sie das Zweite schon angezapft hat.

     Und ob meine Antennen noch funktionieren. Sechs Bier später quetscht sich schon gut ein Dutzend Freaks um die Theke herum, nichts sieht nach Feierabend aus, Kaddy hat mir nach meinem fünften Pils und ihrem zweiten Wodka-O sogar die Andeutung eines Lächelns geschenkt, die Allman Brothers sind inzwischen passend bei Good Time Feeling angelangt, und mein neuer Freund Ossi hängt auf dem Hocker neben mir und liegt schwer auf meiner Schulter, einen Arm um meinen Nacken gelegt. Mit der anderen Hand schwenkt er ein schwappendes Pils in Richtung Musik; also in sämtliche Richtungen. Langsam fängt er an, mich müde zu quatschen; schließlich hat er mir schon einen ebenso langen wie breiten Vortrag darüber gehalten, was an unserem Auftritt heute gut und was Scheiße gewesen war – und das Schlimme ist, dass er mit dem meisten davon auch noch recht hat. Klar:

     »Ich wär’ ja fast auch Musiker gewor’n«, erklärt er mir. »Aber versuch ma’, noinssnhunnät … sechsunsechsunsechzig in Magdeburg ’ne E-Gitarre zu kriegen, wa. Keine Schangse, Alter, keine Schangse. Kaddy, mach no’ zwei!« Kaddy macht noch zwei. »Yeah!«, schreit Ossi, als Gregg und Duane Allman das zweistimmige Thema spielen. Auf seinen besonderen Wunsch läuft nämlich heute Abend nichts anderes als Allman Brothers – Gregg wird fünfzig heute, immerhin doppelt so alt wie sein Bruder geworden war. »Un’ weissu, warum ich mir heute die Kante gebe, Schlachzoigä? Ausgerechnet heute, am siehmten Dezembä?«

     Ich überlege zwei Schlucke lang, ob ich ihm verraten soll, dass er mir das schon erzählt hat, und ob ich ihn mal fragen soll, was er denn eigentlich davon hält, dass sein Gitarrenheld nicht nur mal Cher geheiratet hat, und das sogar gleich zweimal, sondern in einem Drogenprozess 1976 seinen eigenen Arsch damit gerettet hat, dass er seinen Roadie verpfiffen und in den Knast gebracht hat. Aber ich komme zu dem Schluss, das wäre die Anstrengung nicht wert. Tue so, als wüsste ich es nicht, kaschiere mein Unwissen aber, indem ich ihm erkläre, ich hielte es beim Thema Kante-Geben sowieso eher mit Fritz Teufel – mir sei auch jedes andere Datum recht.

     »Ja, Mann!«, schreit er, glotzt mich aus blutunterlaufenen Augen an und reißt in, vielleicht auch halb gespielter, Verzweiflung die Arme hoch. »Ja, weissu denn nich’, wer heute Geburtzach hat?!« Seine Verzweiflung scheint doch ernst und ziemlich groß zu sein – der Schwung seiner Arme wirft ihn nämlich nach hinten von seinem Hocker. Er fällt herunter wie ein nasser Sack, flach auf den Rücken, und sein Hinterkopf macht ein unangenehmes Geräusch auf dem zerschrammten Dielenboden. Aber er bringt das Kunststück fertig, dabei nicht einen Tropfen von seinem Bier zu verschütten. Da liegt er, wie ein umgedrehter Käfer, einen Fuß und die Hand mit seinem Glas in die Höhe gereckt, und starrt mich fragend und durchdringend an.

     »Doch«, sage ich. »Siebter Dezember. Tom Waits und ich.«


***


Ich danke Katja Zuz, Rega Kerner und allen beteiligten Kolleg*innen und wünsche Euch allen eine besinnliche Advents- und eine friedliche Weihnachtszeit.

Und hier geht's zurück zum Adventskalender und den anderen Türchen.

Ach ja … Und wer sich diese Geschichte vielleicht lieber vorlesen lassen möchte – hier ist sie zu finden …

foto: schwab-archiv