richblog 024: Liebe besorgte Bürgerinnen und Bürger …

2015-11-14


"Ich muss sagen, dass ich von Deinem Kommentar echt beeindruckt bin", schrieb ein Jürgen am 11. 11. zu einem Blogbeitrag, den ein Sören Benn am 10.11. auf seiner Website veröffentlicht hatte. Und ich glaube nicht, dass Jürgen dies aus einer karnevalistischen Laune heraus tat, denn ich kann ihm nur beipflichten: "Zum Thema hab ich noch nichts Intelligenteres gelesen. Danke dafür".

"Das ist schön", antwortete Sören nur Minuten später. "Dann verbreite ihn einfach weiter."

Irgendjemand postete Sörens Artikel dann auf facebook, und auch ich habe ihn dort gerne geteilt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich nicht alle Besucher meiner Website auch auf facebook tummeln, daher folge ich Sörens Aufforderung mit Vergnügen auch hier. Weil ich nämlich finde, dass viele Menschen ihn lesen (und wieder weiterverbreiten) sollten.

Hier ist er.

Liebe besorgte Bürgerinnen und Bürger,

wie viele von Euch bin ich männlich, mittleren Alters, Ostdeutscher, habe eine Familie und einen Kleingarten. Einen Hund haben wir auch.

Früher in der DDR fand ich Vieles schlecht genug, um mich in der Friedens- und Ökologiebewegung der evangelischen Kirche zu bewegen. So ganz schlecht fand ich die DDR aber dann doch nicht, außerdem war ihr Ende lange nicht abzusehen, und so habe ich andererseits auch mitgemacht, z.B. in der FDJ.

Das Ende der DDR hat mich denn auch sehr traurig gemacht, gerade wegen der neu gewonnenen Freiheit. Freiheit und Sozialismus fand ich eine schöne Kombination. Die meisten von uns sahen das aber deutlich anders.

Ich kann mich noch ziemlich gut an die Nacht zur Währungsunion erinnern, an die Autokorsos und die Schlange vor der Deutschen Bank-Filiale am Alexanderplatz in der großen Stadt Berlin, in die ich inzwischen gezogen war. An Menschen, die Geldscheine küssten, an Jubel und Alkohol. Ich habe mich damals ein bisschen (eigentlich ziemlich doll) geschämt für uns und dafür, dass wir uns unsere Revolte so billig haben abkaufen lassen. „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“. Das waren so Sprechchöre auf den Demonstrationen, als Demonstrieren nichts mehr kostete. Habt Ihr auch noch die Fernsehbilder aus der Prager Botschaft und vom Treck der zu Fuß über die ungarische Grenze Flüchtenden vor Augen? Ein bisschen gleichen sich die Bilder mit denen von der Balkanroute, findet Ihr nicht? Ok, die Klamotten und Frisuren waren schon schlimm Achtziger. Aber sonst …

Und dann kamen nach der schnellen Vereinigung die Neunziger, und da war dann vielen von uns nicht mehr nach Jubeln. Massenhaft schlossen Betriebe, Versicherungsfuzzis, Otto-Kataloge und Butterfahrten überschwemmten die ostdeutschen Provinzen. Die zweite, dritte und vierte Garde der westdeutschen Gesellschaft, also all jene, die drüben nichts geworden waren und die Buschzulage reizvoll fanden, kamen herüber und erklärten uns ihre Welt, die nun auch unsere werden sollte. So hatten wir das durch Wahlen zum Ausdruck gebracht.

Damals sind dann Sprüche entstanden wie: „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Beim Wessi ist es andersrum“ und eben der Begriff des Besserwessis. Manche kennen sicherlich auch den in kyrillischen Schriftzeichen gesetzten deutschen Satz: „Венн Ду Дас Лезен Каннст Данн Бист Ду Кеин Думмер Весси“. Das war dann so unsere Art, unserem verletzten Stolz Ausdruck zu geben, unsere Faust in der Tasche zu ballen. Es war schon eine blöde Situation. Erst haben „wir“ dem Kohl zugejubelt und die Einheit geradezu herbeigenötigt, um dann festzustellen, wie bescheuert wir waren, zu glauben, Einheit, das sei Westdeutschland plus DDR. Aber da kamen wir nun nicht mehr raus. Und da wir die Schuld für unsere Lage nicht uns selbst geben wollten, begannen wir uns betrogen zu fühlen, empfanden uns als Menschen zweiter Klasse und irgendwie als Verlierer der Geschichte. Dabei hatten wir doch gerade noch das angeblich Größte, die Freiheit, gewonnen. Aber wenn Freiheit darin bestand, neidvoll und arbeitslos die Autos der Anderen zu bestaunen und zu Hause Furchen in den Teppich zu ziehen, dann machte uns das irgendwann doch ziemlich wütend. Schließlich wollten wir in unserer Würde und unseren Leistungen auch anerkannt werden.

Daraus wurde aber nichts.

Einige von uns meinten dann, Asylbewerberheime anzuzünden würde uns weiter bringen, mehr Aufmerksamkeit oder mehr Wohlstand. Sie hatten die ziemlich dumme Idee, wenn die „Fitschis“ und „Neger“ weg wären, würde schon alles gut, das Geld, das die bekamen, bekämen dann wir. Das Ergebnis war aber ein anderes. Mal abgesehen von toten und traumatisierten Eingewanderten, wurden wir ein weiteres Mal stigmatisiert. Die Ostdeutschen wurden nun als hinterwäldlerische Dumpfbacken wahrgenommen, als Psychowracks des Kommunismus, die man im Kindergarten zu früh getopft hatte. Es machte sich die These breit, weil wir in unserem Sozialgehege DDR zu wenig Kontakt mit Ausländern gehabt hätten, würde wir nun mit denen fremdeln. Ja, im Westen gab es auch brennende Unterkünfte. Aber dafür wurde nicht die Westsozialisation verantwortlich gemacht. Dort galt das schlicht als Verbrechen, bei uns als diktaturbedingte Deformation.

Warum schreibe ich Euch das alles?

Ich kann den Frust verstehen, als Ossi nicht anerkannt worden zu sein, sich in seinen Hoffnungen betrogen zu fühlen, zu merken, dass das Leben zu kurz ist, um noch alle Hoffnungen wahr werden zu lassen. Ich kann verstehen, wenn manche spüren, dass sie nicht noch eine grundstürzende Änderung in ihrem Leben haben wollen, dass sie genug Veränderungen ertragen haben. Und wahrscheinlich haben alle recht, die annehmen, dass die Kosten, die die Integration der Geflüchteten zunächst einmal auf jeden Fall verursacht, sicher nicht von den oberen Zehntausend, sondern von den unteren 90 % bezahlt werden wird. Dass der berühmte kleine Mann zur Kasse gebeten werden wird oder jedenfalls der Kuchen nicht größer, aber die Esser mehr werden. Und wenn man eh schon denkt, man käme irgendwie zu kurz, dann wird man eben schon mal wütend und will das auch artikulieren dürfen.

Es gibt aber auch ein paar Sachen, die verstehe ich nicht.

Zum Beispiel wird der Kuchen seit Jahrzehnten in Wirklichkeit jedes Jahr größer, und Ihr bekommt auch ohne Flüchtlinge nichts davon ab. Ist Euch das noch nie aufgefallen? Als sie die Rente mit 67 eingeführt haben, die ja in Wahrheit eine riesige Rentenkürzung ist und Millionen von Armutsrentnern produziert, hat es keine Massenproteste gegeben. Habt Ihr schon mal mitbekommen, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, ganz ohne Flüchtlinge?

Die meisten von uns sind Atheisten, und trotzdem quatschen Pegida und AfD immer von den christlichen Werten des Abendlandes. Was meinen die damit, und was meint Ihr damit? Etwa den Satz von Jesus:“Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir.“? Doch wohl eher nicht.

Ich will nämlich nicht glauben, dass Ihr einfach nur Rassisten seid, dass Ihr tatsächlich glaubt, die deutsche Kultur stehe irgendwie über der syrischen oder arabischen oder muslimischen, wie immer Ihr das auch nennt. Ich kann nicht glauben, dass Ihr ernsthaft „Angst“ vor vergewaltigenden „Arabern“ habt.

Glaubt Ihr wirklich, wir wären irgendwie wertvollere Menschen, wir hätten uns unseren Wohlstand durch harte Arbeit verdient? Glaubt Ihr wirklich, mit dem glücklichen Zufall der mitteleuropäischen Niederkunft und Hautfarbe unserer Mütter verbinde sich ein dauerhaftes Besitzstandrecht auf Boden und Ressourcenverbrauch, einschließlich Ressourcenkriegen und Putschen in rohstoffreichen Ländern zur Ausschlachtung der Südhalbkugel?

Glaubt Ihr wirklich, Deutschland würde von Barbaren überrannt, die tausende von Kilometern zu Fuß zurücklegen, weil sie falsch (oder richtig) informiert sind über Hartz IV ? Glaubt Ihr wirklich, die geben alles, was sie hatten, auf, um hier als Sozialtouristen in einer fremden Kultur, abgeschnitten von ihrer Heimat in Bruchbuden ihr Dasein zu fristen ?

Würdet Ihr, mal angenommen, Syrien hätte unser Sozialsystem, würdet Ihr so mir nichts dir nichts, weil man dort eine Mindestsicherung bekommt, die man hier vielleicht nicht bekommt, Euch zu Fuß nach Syrien aufmachen ohne Not, tausende von Kilometern unter Lebensgefahr?

Nein, natürlich nicht. Also kann ich nicht glauben, dass Ihr glaubt, sie kämen vielleicht ja doch ohne Not.

Glaubt Ihr wirklich, Frau Petry, Herr Höcke oder Herr Gauland, dem Seehofer oder de Maizière ginge es um Euer Wohl oder um Deutschland? Glaubt Ihr wirklich, wenn Ihr die stark macht, dass es für Euch und Eure Kinder dann besser läuft ?

Wenn Ihr das glaubt, wenn Ihr glaubt, dass es dann gerechter zugeht im Land, nur weil wir uns die Flüchtlinge vom Hals halten, dass es den Armen, den Alten, den Geringverdienern dann besser geht, dann benutzt doch bitte einfach Euren eigenen Kopf und überfliegt mal rasch die Geschichte Eures eigenen Lebens und was die Politik euch zu unterschiedlichen Zeiten geboten hat.

Oder wisst Ihr das schon alles, glaubt aber, dass die Flüchtlinge die ganze Scheiße noch schlimmer machen und wollt deshalb, dass sie wegbleiben? Weil Ihr zwar wisst, dass die Welt ungerecht ist, Euch aber nicht traut, gegen die bekannten Ungerechtigkeiten vorzugehen, und daher lieber als besser gestellte Beschissene leben wollt, als Euch mal richtig gegen die zu wenden, die Euch bescheißen?

Ist es also nur Feigheit und kaltes Herz und gar nicht Vaterlandsliebe, Christentum und Verantwortung für Eure Kinder? Das kann ich nicht glauben.

Falls doch, dann sagt das doch einfach so und bemäntelt Eure Verbitterung, euren Opportunismus, eure Feigheit und eure Engherzigkeit nicht mit großen Worten.

Denn Ihr wisst so gut wie ich: Die Frage, ob wir das schaffen, ist keine Frage der Zahl und der Herkunft der Geflüchteten, sondern einzig eine Frage des Willens und der Bereitschaft. Natürlich können wir das schaffen. Wer Exportweltmeister schafft, schafft auch Flüchtlingsintegration.

Wer 12 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 in ein zerstörtes Land integrieren konnte, der kann natürlich auch mindestens 1 Million Flüchtende in das reichste Land Europas integrieren.

Sind Wille und Bereitschaft da, ist der Rest Geld und Organisationstalent – für beides sind wir ziemlich bekannt in der Welt. Das hat uns bisher nicht gestört.

Natürlich macht es Arbeit, und natürlich gibt es für einige wenige von uns auch Einschränkungen. Regierungspolitiker zum Beispiel müssen jetzt etwas mehr rödeln als sonst, auch die Verwaltungen arbeiten am Limit, weil die Politik ihnen nicht die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Und zwischenzeitlich trifft es auch die eine oder andere Turnhalle. Aber sonst? Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein für stolze Deutsche sollte schon drin sein. Ihr könntet ja mal die viel gescholtenen Gutmenschen angucken. Viele von denen arbeiten inzwischen seit Monaten in Flüchtlingsunterkünften, ehrenamtlich nach der Arbeit, in ihrem Urlaub oder als Rentner oder Selbstständige und halten so den Laden am Laufen. Das sind Deutsche! Zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Nur würden die das so nie von sich sagen.

Das Deutsche und die deutschen Werte halten angeblich ausgerechnet jene hoch, die seit Monaten nichts anderes tun als Jammern und Angst haben und Herausforderungen nicht annehmen, sondern sie abwehren wollen. Drückeberger, Weicheier und Heulsusen, die aus Angst vorm Muselmann oder um ihre nächste mickrige Rentenerhöhung Leuten zujubeln, die aus dieser zugegebenermaßen mehr schlecht als recht funktionierenden Demokratie eine gut funktionierende Diktatur machen werden, wenn Ihr sie lasst. Wer Orban in Ungarn und Petry in Deutschland hinterherläuft, der macht dieses recht friedliche Scheißbürokraten-Europa so kaputt, dass Ihr euch nach diesem friedlichen Scheißbürokraten-Europa noch zurücksehnen werdet.

Ich wär ja dafür, es einfach besser zu machen und das zu beherzigen, was wir im Grunde alle wissen: Solidarität macht immer alle reicher. Abgrenzung und Konkurrenz macht Gewinner und Verlierer, gebiert Neid und Hass und Krieg.

So einfach ist das.

Aber Ihr sollt ja keinen einfachen Parolen hinterher rennen. Lasst Euch nicht nochmal blühende Landschaften versprechen. Von Niemandem.


Ja, Kinners, der Mann spricht dem Opa ziemlich aus dem Herzen (danke, Sören!). Genug auf jeden Fall, dass ich gar nicht so recht weiß, was ich selbst da noch groß kommentieren sollte. Ich kann allenfalls meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass möglichst viele Menschen in diesem unserem Lande das lesen. Dass es vor allem die richtigen lesen – die, die sich angesprochen fühlen sollten.

Ich finde es eigentlich gut, wenn Leute auf die Straße gehen und ihre Wut und Unzufriedenheit ausdrücken“, schreibt ein Günter in seinem Kommentar auf Sörens Website. „Leider demonstrieren Pegida und AfD gegen die Falschen! Sie demonstrieren gegen die Opfer und nicht gegen die Täter. Und helfen damit den Tätern. Trotz allem fände ich es richtiger, den Pegida-Leuten genau das entgegenzuhalten und sie nicht mit “Nazis Raus!”-Rufen zusammenzuschreien.

Auch ihm gebe ich recht. Wohl wissend, dass man heutzutage ziemlich schnell und leicht in eine Ecke gestellt wird, in der man doch gar nicht steht. Dass man sich plötzlich Fascho- und Nazi-Vorwürfen ausgesetzt sieht, bloß weil man so etwas wie Verständnis für die „besorgten Bürger“ geäußert hat. Weil man nicht nur nachvollziehen kann, dass Bürger sich Sorgen machen, sondern weil man sich hinstellt und sagt „He, auch ich würde mich als besorgten Bürger bezeichnen! Und wisst Ihr, warum? Weil verdammt vieles in diesem Land, in dieser Welt, in diesem System verdammt im Argen liegt!“

Mal ganz davon abgesehen, dass es mir ziemlich am Arsch vorbeigeht, in welche Ecke mich irgendjemand stellt. Ich weiß ja, in welcher ich stehe.

In meiner Jugend habe ich mal eine Zeitlang geboxt. Teils aus Gründen der sportlichen Ertüchtigung, teils, um mich im Notfall draußen auf der Straße, in den finstereren Ecken Kölns wehren zu können gegen Zeitgenossen, für die Auseinandersetzung grundsätzlich zu bedeuten schien, dass man dem, der anderer Meinung war als sie oder sich anders benahm oder anders aussah, am Ende noch all das gleichzeitig, oder der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war, erzieherisch und gründlich die Fresse polieren müsste.

(Denn natürlich hat – leider – auch Inch recht, in ihrem Kommentar zu Sörens Artikel:

Entschuldigung, haben Sie einmal versucht, mit -gida- Spazierern zu diskutieren? Ich ja. Da ist jedes Argument sinnlos, jede vernünftige, einigermaßen intelligente Diskussion unmöglich. Ich habe da noch nie einen erlebt, der auch nur ansatzweise diskutieren wollte, oder über seine Sorgen ernsthaft reden. Bei jedem Versuch, bei jedem Kontakt, wurde ich angepöbelt, angeschrien. Niemand war bereit, mir zuzuhören, geschweige denn darüber nachzudenken. Selbst auf die ernsthafte Frage, was sie denn so störe, wurde ich angepöbelt und angeschrien.“)

Was ich jedenfalls sagen will, ist: Ich weiß, wie es in einem Boxring aussieht (und wie es sich dort anfühlt). Da gibt’s dann zum Beispiel eine blaue und eine rote Ecke. Und wenn ich in der roten Ecke stehe (weil ich die rote Hose trage), dann stehe ich eben in der roten Ecke. Und da können wer weiß wie viele um den Ring herum, da kann eine ganze Sporthalle schreien „Wir sehen dich in der blauen Ecke!“ – ich weiß, dass ich in der roten stehe. Punkt. (Und dass ich jetzt da in der roten Ecke stehe, ist sicher Zufall. Wenn man an Zufälle glaubt.)

Also stellt mich mit meinem meinetwegen fragwürdigen Verständnis in die blaue Ecke, in die braune, in die rechte, in die linke, die blau-wieß-querjestriefte – mir isses wurscht, Leute.

Ich habe Verständnis. Für Sorgen. Für Leute, die sich Sorgen machen. Für Leute, die auf die Straße gehen und ihre Sorgen der Öffentlichkeit kundtun – denn welche und wie viele andere Möglichkeiten haben sie?

Ja, ich habe sogar Verständnis dafür, dass diese Leute wütend werden, wenn dieses Kundtun, dieser Protest nichts bewirkt oder gar ändert.

Und ja, ich habe sogar ein gewisses Verständnis dafür, dass diese Wut sich ein Ventil sucht (ich war ja auch mal jung und blöde) – so sind wir Menschen nun mal gestrickt. (Genau wie mein Hund übrigens, der frustriert seinen Ball zerfetzt, weil er Nachbars Katzen nicht jagen darf.) Und dass dieses Ventil sich dort öffnet, wo es den geringsten Widerstand zu finden vermeint, scheint mir auch normal zu sein – das ist ja nicht nur Psychologie, sondern simple Physik. Und so sucht der besorgte und wütende Bürger sich eben Gegner – oder besser noch: Opfer. Schwächere Gegner. In diesem Fall und in diesen Tagen sind das eben nicht der Schwed’, der Russ’ oder der Franzos’, es sind nicht Hexen, Heiden oder Juden, Hippies, Punks oder Schwule – nun sind es Flüchtlinge. Andersartige. Andersfarbige. Andersgläubige.

Dass diese Menschen per se bereits Opfer sind, die Opfer unseres Lebensstandards, unseres Wachstum!Wachstum!Wachstum!-Wahns, dessen, was Herr Fischer, der olle Steinewerfer, so schön euphemistisch Geopolitik nennt, weiß man allenfalls, wenn man über einen gewissen Bildungsstand verfügt – für die blinde Wut sind sie eben leichte Opfer.

Und hier hört dann allerdings mein Verständnis auf. Kinners, wir leben im 21. Jahrhundert. Ihr könnt sauer sein, Ihr könnt Eurem Sauersein Luft machen, Ihr könnt Euch beklagen; Ihr könnt Euch beklagen darüber, dass es Euch so beschissen geht, dass Ihr Angst habt, Angst vor der Zukunft, Angst um Eure Kinder, Angst davor, dass Euch diese Zukunft noch unsicherer erscheint, wenn so viele Fremde hierher kommen.

Aber.

Aber das gibt Euch nicht im Geringsten das Recht, diesen Menschen mit Gewalt zu begegnen. Sie durch die Straßen Eurer Städte und Dörfer zu jagen. Sie zu verprügeln und zu misshandeln. Ihre notdürftigen Unterkünfte zu demolieren und anzuzünden. Sie umzubringen. Nicht im Geringsten und auch nur ansatzweise.

Das sind Menschen! Menschen in Not!

Habt Ihr kein Herz? Keine Moral?


Ich finde, Leute, die sich von derlei Ausschreitungen nicht abhalten lassen und abhalten lassen wollen, muss man dann eben mal aufs Maul hauen.

Nein, das meine ich jetzt nicht, weil ich in meiner Jugend mal geboxt habe, und auch nicht wörtlich. Die Zeiten, wo ich Straßenschlachten spannend und unterhaltsam fand, sind lange vorbei. Sehr lange. Und schon gar nicht finde ich, dass sie uns auch nur einen Millimeter weiterbringen.

Ich finde, dafür haben wir ein Gemeinwesen. Eine Legislative, also Gesetze. Und eine Exekutive, deren Pflicht und Aufgabe es ist, diese Gesetze umzusetzen. Ihre Befolgung durchzusetzen. Kommunen, Länder, der Staat.

Und es muss ein Ende haben damit, dass Strafverfolgungsbehörden in diesem Land auf dem rechten Auge sehbehinderter sind als auf dem linken. Kriminell ist kriminell.

Warum sind die auf dem rechten Auge blinder, siebzig Jahre nach dem Ende des so genannten Tausendjährigen Reiches? Oder ist es womöglich in Wahrheit so, dass dieses unglückselige Reich tatsächlich tausend Jahre andauert …?


Vielleicht können wir nicht mehr viel daran ändern, dass die Täter von heute Täter sind und bleiben.

Aber sollten wir uns langsam nicht mal ernsthaft Gedanken darüber machen, was Menschen überhaupt erst zu solchen Tätern macht? Gedanken über die Gesellschaft, das System, in dem wir leben? Ein System, das darauf aufbaut und aufgebaut ist, dass Menschen gegeneinander denken und leben? Ein System, das Menschen von klein auf zu Konkurrenzdenken erzieht – der Stärkere ist der Bessere, der Raffiniertere ist der Gewinner. Ein System, das von Wettbewerb, von Gier, Geiz und Neid geprägt ist. Von der Furcht, nicht mithalten zu können, minderwertig zu sein. Vom Streben nach Reichtum und Macht, weil Reichtum Macht bedeutet und Macht Reichtum. Ein Gemeinwesen, das sich anscheinend überall und mehr und mehr von einer sozialen zu einer Ellbogengesellschaft entwickelt.

Ist es nicht an der Zeit umzudenken? Unseren Kindern und Kindeskindern wieder andere Werte zu vermitteln? Wertvolle Werte? Werte, wie sie doch eigentlich im Regelwerk einer jeden Weltregion seit Menschengedenken verankert sind – Ehrlichkeit, Gerechtigkeitsempfinden, Nächstenliebe. Empathie. Moral. Respekt. Ehre.

Das soll man an in der Familie, in Kindergärten, an Schulen und Universitäten nicht lehren können …?


Während ich dies alles in die Tastatur haue, kommen laufend Nachrichten aus Paris herein. Letzter Stand gerade, laut Süddeutscher Zeitung: In Paris haben Terroristen bei mehreren Anschlägen mehr als 120 Menschen getötet, mindestens 200 weitere Personen wurden verletzt. Frankreichs Präsident Hollande hat den Ausnahmezustand verhängt, auch Soldaten sind eingesetzt. IS bekennt sich zu den Anschlägen. In einer im Internet verbreiteten Erklärung heißt es, "acht Brüder" hätten die Anschläge verübt.


Wollt Ihr das? Dass die Opfer anfangen sich zu wehren, dass sie zurückschlagen? Wollt Ihr das – Ausnahmezustand? Bürgerkriege?

„Warum nicht?“, höre ich da ganz weit hinten jemanden grölen. Der Opa schüttelt den Kopp …


Wie sagt der Dichter Mirko Steiner …

Aus Angst wird Wut

wird Hass

All das

trübt Scharfblick

und raubt Urteilskraft


In Angst

dass Wut, dass Hass

all das

in dieser Nacht

minütlich schafft


Tja. Ich fürchte, die Angst ist nur zu berechtigt.

Schon kommen sie zum Vorschein, selbst bisher des fanatischen Denkens Unverdächtige, und sagen Dinge wie: Jeder weiß es, keiner spricht es offen aus: Solange diese eine Religion unter uns ist, wird es keinen Frieden geben - Punkt!

Oops!, antwortet der Opa. Das hätte vor ein paar hundert Jahren auch gut ein Orientale, ein Afrikaner, ein Indianer über das Christentum posten können … Hört doch endlich auf, Euch auf irgendeine Religion einzuschießen, bloß weil ein paar von deren Anhängern ein Rad ab haben. Und richtet Euer Augenmerk – und Eure Wut – auf die wirklichen Übeltäter.

Und wappnet Euch – es könnte sein, dass Ihr im Zuge dessen womöglich auch einen Blick in den Spiegel werfen müsst.


Mann, Mann … Dabei wollte ich gar kein Buch schreiben. Bzw. ein ganz anderes. Aber das musste wohl mal raus.

foto: dpa cas tmk