foto: schwab-archiv. 1976

richblog 027: Gala galore

2018-04-08


Man kann dem Opa ja so einige Schrullen und Macken vorwerfen – seinen Mitmenschen den beginnenden Tag mit der sprühenden guten Laune von Frühstücksradio-Moderatoren zu versauen gehört ganz sicher nicht dazu. Nein, er findet so gut wie jeden Morgen hinreichend Gründe, sich einer Morgenmuffeligkeit hinzugeben, die sich gewöhnlich erst legt, wenn sich nach einer Runde mit dem Hund über die Felder und einem anschließenden gesunden Müsli-Frühstück der vanillige Geschmack einer frischen Tasse Kräutertee und der Dunst der ersten Selbstgedrehten besänftigend um sein Nervenkostüm winden.

     Gewöhnlich. An Samstagen bekommt die schlechte Laune jedoch noch weiteres Futter: Einkauf aktuell liegt im Briefkasten, eine Sammlung von Werbeprospekten, die niemand bestellt hat. Was schon ärgerlich genug wäre, immerhin ziert den Briefkasten ein postgelber Sticker, auf dem in knalligem Rot gut leserlich Werbung unerwünscht! steht. (Vor ein paar Jahren hat der Opa sich mal den Spaß gegönnt, eine Weile alles, was dennoch an Werbung in seinem Briefkasten landete, auf die Waage zu legen. 4,8 Kilo waren es am Ende des Monats. 4,8 Kilo. Jeden Monat, in der Vorweihnachtszeit gerne auch ein Kilo mehr! Trotz Sticker, trotz Eintrag in die Robinson-Liste. Ja, so funktioniert Kapitalismus – ein Heer von Werbemenschen, Textern, Grafikern, Setzern, Druckern, Spediteuren und Boten in Brot und Arbeit, um tonnenweise bunt Bedrucktes in Haushalte zu liefern, in denen das ausdrücklich nicht erwünscht ist. Und der Opa zahlt jeden Monat den Gegenwert eines Päckchens Tabak nebst Blättchen für eine grüne Tonne, in die er den ganzen Klumpatsch dann treu und brav Woche für Woche schleppen kann, damit auch Müllmänner und Recycling-Betriebe nicht in der Hartz4-Gosse landen. Weswegen es wohl auch undenkbar ist, das Ganze schlicht abzuschaffen …)

     Erschwerend und Opas Morgenlaune und Blutdruck fördernd kommt bei Einkauf aktuell hinzu, dass dieses Päckchen unerwünschter Werbung (Stempelaufdruck: »Inhalt: 40 Ex.«) fein säuberlich in Klarsichtfolie eingeschweißt ist. Die Folge ist, jeden Samstag, ein Streitgespräch zwischen dem Öko-Freak im Opa und dem Morgenmuffel:

     Ö: »Hey, du kannst doch nicht diese Scheiß-Plastikfolie in die grüne Tonne werfen!«

     M: »Ach, nein? Jede Woche schicken mir irgendwelche Arschgeigen einen Packen Papier ins Haus, den ich gar nicht bestellt habe – und dann soll ich das für die auch noch auspacken, damit ich in den Mülltrennerhimmel komme? Die können mich mal!«

     Kleiner Tipp am Rande: Solltet Ihr mal vorhaben, den Opa zu kontaktieren – Samstagvormittags ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt dafür.

     Aber das ist gar nicht unser Thema heute.

     Heute ist alles noch viel schlimmer.

     Die Klarsichtfolie ist nämlich, wie der Name schon sagt, durchsichtig. Man kann lesen, was auf der Titelseite von Einkauf aktuell steht. Auch der Opa. Also ich. Und mir fällt beinahe ein Löffel Müsli aus dem Gesicht, als ich die auf dem Titelblatt prangende Anzeige lese und ihr Inhalt in mein Bewusstsein sickert:

     Legends Never Die, steht da, dick und fett, in kleinstadtnachtclublila auf gelbem Hintergrund. The 27Club in concert.

     »Hä?«, denke ich noch und starre auf das Bild von Jimi Hendrix unter der Schlagzeile. Und lese weiter:

     A Concert Tribute to Jimi Hendrix, Amy Winehouse, Janis Joplin, Kurt Cobain, Jim Morrison, Brian Jones (Rolling Stones) and more … 07.–12.08.18, Kölner Philharmonie …

     Und darunter, in einem grün-gelben Kästchen: Jetzt 10% Preisvorteil sichern! Mehr dazu auf Seite 3.

     »Pfui, wie geschmacklos!«, denke ich. Und gleichzeitig: »Immerhin haben sie’s hingekriegt, nicht Jimmy Hendrix zu schreiben, und ist es nicht nett von ihnen, die jungen Einkauf aktuell-Leser und -innen darüber aufzuklären, dass es sich bei Brian Jones nicht um den Sänger von Sex Bomb oder den Schauspieler in Men in Black handelt, sondern um jemanden, der wohl mal irgendwas mit den Rolling Stones zu tun hatte.«

     Ich kann nicht anders – ich muss mehr darüber erfahren, muss wissen, was auf Seite 3 steht. Zum ersten Mal in meiner Karriere als Briefkastenleerer befreie ich Einkauf aktuell von der verdammten Folie und betätige mich, wenn auch angewidert, als Unfallstellen-Gaffer.

     Noch mal die Headline, über einem Foto von anonymen Sängerinnen, Sängern und Musikern auf einer Showtreppe, im lilafarbenen Scheinwerferlicht eines Striptease- Schuppens hinten im Gewerbegebiet von Ingendingen oder Habbelrath. Wichtigste Info, diesmal weiß auf Pink: 10% Rabatt für Einkauf aktuell-Leser.

     Kleinere Titelzeile: Der Mythos erstmals live in Köln auf der Bühne.

     Nein, ich bringe es nicht fertig, den kompletten Text des Artikels darunter zu zitieren, und das beileibe nicht nur aus urheberrechtlichen Gründen. Unter anderem erfahre ich, erfahren wir, im Artikel darunter: Handverlesene, hochkarätige Vollblutmusiker aus Großbritannien verneigen sich vor den einflussreichsten Künstlern aller Zeiten …

     Nein, wir müssen jetzt nicht darüber diskutieren, was »einflussreich« in der Musikgeschichte bedeutet. Bedeuten könnte. Müssen nicht darüber nachdenken, ob wir Elmore James und John Lee Hooker, Muddy Waters, Charlie Parker und John Coltrane, Sly, James Brown und Prince, Billie Holiday, John Mayall, Alexis Korner und John Lennon, Frank Sinatra, Frank Zappa und Miles Davis – nur so als ein paar Beispiele – dafür bemitleiden sollen, dass sie nicht mit 27 abgetreten sind. Können uns allenfalls fragen, ob Robert Johnson, 1938 im Alter von 27 Jahren gestorben, in diesem merkwürdigen Konzertprogramm unter and more fällt. Oder (wer kennt den schon?) gar keinen Clubausweis hat.

     Nein, ich bin nicht für einen ausgeprägten Hang zu Pietät bekannt. Nein, ich habe auch nichts – na ja, nicht allzu viel – gegen all die Musiker, die sich mit Jobs in so genannten Gala-Bands über Wasser halten.

     Ja, ich bin absolut dafür, dass Musiker davon leben können, dass sie Musik machen. Und zwar die Art von Musik, die sie machen wollen, welche auch immer das sein mag. Wie ich hörte, macht es etlichen von denen ja auch Spaß, die Musik anderer Leute zu spielen. Sich zu verneigen.

     Nein, ich habe nie in solchen Gala-Bands gespielt. Habe mich im Gegenteil jahrzehntelang erfolgreich geweigert, das zu tun. Ich habe lieber Kisten geschleppt, Kartons gepackt oder Bier gezapft, um mir das Musikerdasein leisten zu können, als mich auf die Bühne irgendeines Firmen-Events zu stellen und, ein leergefressenes Buffet vor Augen, irgendwelche Schlipsträger sich auf Firmenkosten noch mal ein paar Stunden jung fühlen zu lassen, indem ich mit ein paar Kollegen und -innen irgendwelche Oldie-Hitparaden der Veranstalterwahl herunternudele. Um mich dann nach dem letzten Set, weit nach Mitternacht, mit drei Promille im Schädel als Zugabe zu wahlweise I Will Survive, Let’s Spend The Night Together oder Marmor, Stein und Eisen bricht überreden zu lassen. Oder, noch schlimmer, Polonaise Blankenese oder Knocking On Heaven’s Door. (»Oder könnt ihr das auch nicht? Und was soll denn jetzt blöde daran sein, sich von einer Band, die sich den ganzen Abend an Stones-, Beatles- und Tina Turner-Songs abgerackert hat, nun Atemlos durch die Nacht zu wünschen, nein: zu verlangen?«)

     Okay, auch ich habe mich vor ein paar Jahren dabei ertappt, wie ich anlässlich der Geburtstagsparty eines Kollegen auf einer Bühne stand und Gloria sang und spielte. Aber erstens wurde ich dafür nicht bezahlt, musste mich also nicht als Publikumsgeschmacksnutte fühlen, zweitens war das ein ausdrücklicher Wunsch des Geburtstagskindes, und drittens konnte ich doch damit für mich einen Kreis schließen: War schließlich Gloria in den 60er Jahren bei Gigs meiner allerersten Band mein Aushängeschild, mein Feature-Song (trotz des Fantasie-Englischen, mit dem ich lautmalerisch Van Morrisons mir damals unverständlichen Text ersetzte).

     Also warum nur finde ich dieses The 27Club in concert so … geschmacklos, so unappetitlich? So pietätlos und makaber?

     Ich weiß es nicht mal wirklich. Ist nur so’n Gefühl.

     Ich muss an all die Kids denken, da draußen, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund – vielleicht auch nur so’n Gefühl – beschlossen haben, Musik machen zu wollen. Und das nicht nur mit den Loop-Bauklötzchen ihres Computers und einem 2-Oktaven-Keyboard. Junge Menschen, die zusammen Musik machen wollen, zusammen mit Freunden und Gleichgesinnten. Die den Wunsch haben, mit dieser Musik aufzutreten, einem Publikum zu zeigen, was sie geschaffen, was sie drauf haben. Ich denke an all die jungen Bands, die mit ihrer Musik nicht vorankommen, weil es keine Proberäume gibt. An all die Jugendzentren landauf, landab, deren Leitung immer wieder zahllose Gründe findet, die gegen ein Rockkonzert in ihrem mit öffentlichen Geldern geförderten Laden sprechen. Ich denke an all die Clubs, in denen unbekannte junge Bands dafür zahlen müssen, auftreten zu dürfen. Ich denke an all die Kneipenwirte, die durchaus bereit wären, diese jungen Bands auftreten zu lassen, wenn die GEMA-Tarife das nicht völlig unwirtschaftlich machten.

     Ich denke an die A&R-Abteilungen von Plattenfirmen und Musikverlagen, die angeblich immer auf der Suche nach jungen Talenten sind, aber nur den Talenten eine Chance geben, die so ähnlich klingen wie der letzte Million-Seller. Ich denke an die Ticketpreise von Rolling Stones-, Sting- und Phil Collins-Konzerten. Denke an YouTube & Co., die nicht einsehen wollen, dass Musik nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis hat, an Download-Plattformen wie Spotify und deren lächerliche Tantiemen-Politik.

     Ich denke daran, wie froh ich oft bin, keine 20 mehr zu sein und mich als junger Musiker mit all dem konfrontiert zu sehen und auseinandersetzen zu müssen.

     Ich denke an tausende von Besuchern der Kölner Philharmonie, die zwischen 36 und 62,50 Euro ausgeben, um sich The 27Club anzusehen und sich anzuhören, wie handverlesene, hochkarätige Vollblutmusiker sich Mühe geben, wie Hendrix, Nirvana oder Amy zu klingen (bestimmt gelingt ihnen das, und bestimmt haben sie dafür hart gearbeitet und Applaus und eine angemessene Gage verdient) – aber ich frage mich: Warum tun die das (die Besucher meine ich jetzt, nicht die Musiker) (obwohl: das auch)?

     Wann stehen in der Köln-Arena die ersten handverlesenen, hochkarätigen Vollblutboxer im Ring, die den Kampf Max Schmeling gegen Joe Louis oder den von Muhammad Ali gegen George Foreman nachstellen? Und wird als Höhepunkt des Abends irgendein junges Peter Müller-Double unter johlendem Applaus einen russischen Ringrichter k.o. schlagen?

     Und sollten wir uns schon Tickets sichern (Achtung: 10% Rabatt für Einkauf aktuell-Leser!) für das Konzert Die zehn an ihrem eigenen Erbrochenen Verreckten, wird es eine Tribute to the trotz 4 Millionen Downloads verhungerten Musiker-Tour geben …?

     Was weiß denn ich.

     Auf jeden Fall schmeckt mir mein Müsli nicht mehr – ich drehe mir mal eine.

     Und dann gehe ich in mein Heimstudio und lade unverdrossen einen weiteren Song hoch.

     Handverlesen.

     Bitteschön.

     Und natürlich bin ich, selbst an solch einem Samstagmorgen, froh, nicht mit 27 den Löffel abgegeben zu haben – und womöglich, eine einsame Träne im Augenwinkel, von irgendeiner Wolke aus erleben zu müssen, wie handverlesene, hochkarätige Vollblutmusiker aus China zwischen Gimme Shelter, Riders On The Storm und Rehab sich vor mir verbeugen und Allein machen sie dich ein spielen.

     Ach, wäre ja auch Quatsch. Das habe ich ja erst mit 32 geschrieben.


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