richblog 021: Feuilleton

2013-07-11


Der Opa liest das Feuilleton …


… und kotzt beinahe sein Frühstück über den Tisch.

Dabei ist es so ein schöner Morgen, heute, dieser Morgen des 17. Juli 2013 – um kurz nach sieben, als der Opa aufstand, schien die Welt ein Ort zu sein, an dem man gerne sein wollte, das Leben etwas, das man genießen könnte. Das Licht schlich sich durch das große Fenster zum Garten hin ins Schlafzimmer, nicht heimtückisch wie ein Eindringling, sondern fröhlich und sanft lächelnd wie eine Geliebte, die barfüßig ein Tablett vor sich her balanciert, mit herrlich duftendem Kaffee und einem kleinen Kuchen darauf, auf dem ein paar bunte Kerzen flackern: „Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …“

Der Opa ließ sich wecken, gerne fast, im Gegensatz zu seiner sonstigen morgendlichen Muffigkeit, die doch nichts anderes ist als Abwehr, Angst und Ratlosigkeit – wer bin ich, was bin ich, warum bin ich hier, was soll ich hier, warum muss ich das alles ertragen? –, während wie fast jeden Morgen seit nunmehr fünfundvierzig Jahren Van Morrison irgendwo hinten in seinem Kopf Astral Weeks singt: „I ain’t nothing but a stranger in this world, I ain’t nothing but a stranger in this world“, als nimmermüde und doch so ermüdende Endlosschleife, der Refrain von Opas Leben.

Nein, heute scheint mal wieder einer der Tage zu sein, wo sich das alles anders anfühlt; es ist eher Louis Armstrong, der mit breitem Lächeln und blitzenden Zähnen dagegen hält – „And I say to myself: What a wonderful world …“

Passend glitzern dazu die hundertvierundvierzig Grüntöne des Gartens im Morgentau, die Vögel präsentieren freigiebig ihre Morgensymphonie, der Klatschmohn leuchtet, der Lavendel duftet und lockt Bienen und Schmetterlinge zur Frühschicht, der Himmel ist sommerblau; als der Frühstückstee fertig ist, wird es schon Zeit den Sonnenschirm aufzuspannen. Der Opa genießt es, freut sich und liest das Feuilleton – die ZEIT hat ihm mal wieder ein vierwöchiges Probe-Abo gegönnt. (Vielen Dank!)

Der Opa hat eine eiserne Regel: Vor dem Frühstück wird nicht geraucht.

Der Opa hat einige Regeln, das ergibt sich so im Laufe eines dreiundsechzigjährigen Lebens. Die ergeben sich, die spielen sich ein, die bewähren sich, die setzen sich fest, weil sie sich bewährt haben. Zu Bockwurst gehört Senf. Zu Tomaten gehört Kräutersalz. Zu Kräutertee gehört Honig. Bevor man am Auftrittsort auch nur einen Kabelkoffer aus dem Bus lädt, Steckdosen sucht oder sich auf ein Gespräch mit dem örtlichen Veranstalter einlässt, kontrolliert man, ob das Bier in der Künstlergarderobe auch kalt steht. Sollte die reisende Truppe aus welchen Gründen auch immer vor oder nach dem Auftritt versprengt werden, trifft man sich in der nächsten Kneipe links. In der nächsten Kneipe links, in jeder Kneipe, setzt man sich auf den Hocker, von dem aus man die Theke, den Raum und die Tür im Auge hat. Spätestens nach dem dritten Bier kennt man die Bedienung mit Namen. Spätestens nach dem fünfzehnten Bier weiß man, in welcher Kaschemme dieser Stadt sie ihr Feierabendbier trinkt. Und nicht oft genug erwähnt werden kann die Regel „Lüg niemanden an.“ Im Grunde gelernt schon in jungen Jahren, schmerzlich gelernt, weil immer wieder schmerzlich darauf gestoßen, dass Lügen immer auffliegen; es mag oft lange dauern, aber irgendwann fallen, nein stürzen, poltern, prasseln sie auf einen zurück. Das ist wie mit den Festplatten – die Frage ist nicht, ob sie kaputtgehen, sondern wann. Niemals schöner formuliert wurde die Regel jedenfalls in dem Film Der Einzelgänger. James Caan besucht Willie Nelson im Knast. Man kann schon ahnen, dass Willie den Knast nicht überleben wird. Und Willie sagt zu James: „Lüg niemanden an. Wenn du jemanden magst, kann eine Lüge alles verderben. Und wenn du jemanden nicht magst – warum solltest du ihn belügen?“

Und vor dem Frühstück wird nicht geraucht.

Heute bedauert der Opa das. Als er im Feuilleton ankommt, auf Seite 40 der ZEIT, hat er seine Müslischale gerade erst halb leer gelöffelt. Er liest, dass Götz George sich im filmischen Porträt seines Vaters Heinrich diesen Vater schön spielt, dass die Dennis Hopper-Biographie von Tom Folson total vermasselt sei und dass Verdi-Arien nach unten transponiert werden, um Tenören das hohe C zu ersparen. Und er liest, der eigentliche westliche Zivilisationsbruch im „Krieg gegen den Terror“ ist die Aufteilung der Menschen in die, für die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt, und solche die sich nicht auf sie berufen können. Die Rede ist von Guantánamo, die Rede ist von der dort praktizierten Zwangsernährung der Gefangenen, von denen über 100 aus schierer Verzweiflung im Hungerstreik sind – viele seit Februar. Der Opa liest, noch immer befinden sich dort 166 Gefangene in einem Zustand völliger Rechtlosigkeit. Über 80 von ihnen hätten wegen offiziell bescheinigter Ungefährlichkeit längst entlassen werden müssen. 44 sollen auf ewig ohne Prozess in Haft bleiben, weil „Beweise“ unter Folter zustande gekommen sind und vor Gericht nicht verwendet werden können.

„Yes, we can“, denkt der Opa. Die Symphonie der Vögel klingt langsam aus, zerfleddert, zerfranst, der Klatschmohn sieht durstig aus, die weißen Blüten der Yucca nehmen die Farbe von vertrocknetem Heu an. Das Müsli schmeckt fad, Satchmo has left the building.

Der Opa liest den letzten Satz des Artikels von Andrea Böhm: Zwangsernährung schiebt den Tod auf, verhindern kann sie ihn nicht. Inzwischen gibt es von der Gefängnisverwaltung ein Zugeständnis: Während des Fastenmonats Ramadan, der nun beginnt, soll die Zwangsernährung erst nach Sonnenuntergang durchgeführt werden.

Vor dem Frühstück wird nicht geraucht. Opas Frühstück ist beendet. Ihm ist der Appetit vergangen. Er dreht sich eine Zigarette und raucht. Sie schmeckt nicht. Die sonst leckerste Zigarette des Tages, die erste nach dem Frühstück, schmeckt nicht.

Auch die zweite nicht. Die dritte. Immer wieder liest der Opa diesen Satz. Inzwischen gibt es von der Gefängnisverwaltung ein Zugeständnis: Während des Fastenmonats Ramadan, der nun beginnt, soll die Zwangsernährung erst nach Sonnenuntergang durchgeführt werden.

Des öfteren in seinem Leben hat sich der Opa den Vorwurf gefallen lassen müssen (nicht, dass er ihm tatsächlich gefallen hätte), ein Zyniker zu sein. „He“, ruft er jetzt in den Garten hinaus und meint damit nicht die Bienen und Schmetterlinge, sondern all diejenigen, von denen er sich diesen Vorwurf anhören musste. „He, wenn ich ein Zyniker bin – was sind dann die Leute in der Gefängnisverwaltung von Guantánamo? Was sind das für Menschen? Sind das überhaupt Menschen?“

„Ach, Gottchen“, denkt es in Opas Hinterkopf und grinst süffisant. „Haben wir heute unseren Naiven?“

Nein. Haben wir nicht. Wir wissen, wozu Menschen fähig sind. Im Namen des Rechts, im Namen der Religion, im Namen der Freiheit. Menschen lügen, betrügen, stehlen und bescheißen das Finanzamt. Menschen lassen ihre Kinder verhungern und verdursten oder schütteln oder prügeln sie zu Tode. Menschen mauern ganze Städte ein oder errichten Mauern an den Grenzen ihrer Länder. Menschen sind so erfinderisch, sie formen und lackieren Landminen derart, dass sie aussehen wie Spielzeug, damit sie von Kindern auf den Feldern ihrer Eltern aufgehoben werden. Menschen züchten Selbstmordattentäter und Kindersoldaten. Menschen sind neidisch und gierig und grausam.

Und so menschlich. Während des Fastenmonats Ramadan soll die Zwangsernährung erst nach Sonnenuntergang durchgeführt werden.

Van Morrison ist wieder da.

Ja, denkt der Opa, ich bin fremd hier. Ich weiß nicht, was ich hier soll.

Ich will nicht hier sein.

Ich will nicht einer von denen sein.


Und warum steht ein Artikel über derart perverses Denken – und Handeln! – im Feuilleton? Dem Kulturteil einer Zeitung, der sich mit Literatur, Musik, Theater, Bildender Kunst, Film etc. beschäftigen sollte?

Weil der amerikanische Rapper und Schauspieler Yasiin Bey unter seinem Künstlernamen Mos Def – der dem Opa bisher unbekannt war – einen Videoclip auf YouTube veröffentlicht hat. Rapper, Videoclip, YouTube, denkt der Opa. Mit kiloschweren Goldketten behängte Typen, die sich dauernd an den Sack fassen, mit finsteren Mienen und protzigen Gesten schwer verständliche Texte in die Kamera bellen, während leicht bekleidete Schönheiten lasziv um sie herumscharwenzeln und so tun, zumindest so tun müssen, als würde ihnen das Spaß machen. (Manchmal ist der Opa etwas altmodisch.)

Nein.

Dieses Video kann Zuschauer verstören, heißt es warnend im Vorspann.

Tut es.

Keine Goldketten, keine Miezen, nicht einmal Rap. Gar keine Musik, nicht ein Ton. Jedenfalls kein musikalischer.

Mos Def, gekleidet in den orangefarbenen Overall, den alle Guantánamo-Gefangenen tragen müssen (Wir sind alles Individuen – außer dir. Du hast keine Identität.), lässt sich in einer Art Labor an einen Sessel ketten und unterzieht sich der anscheinend authentischen und auf der Gefängnisinsel praktizierten Prozedur, sich zwangsernähren zu lassen. Gefesselte Hände und Füße, mit Lederriemen fixierter Kopf, ein Schlauch mit Nährlösung wird ihm – nicht gerade sanft – in die Nase geschoben.

Der Rapper stöhnt, schreit, wirft den Kopf hin und her, versucht dem Schlauch auszuweichen, seine Füße zucken in den Ketten, die Handschellen schneiden in seine Gelenke.

Nach etwa einer Minute gibt er auf, fleht die Akteure an, aufzuhören, die Prozedur abzubrechen.

Als er seine Fesseln los ist, schlägt er die Hände vors Gesicht und weint.

In Guantánamo wird die volle Prozedur zweimal am Tag durchgeführt, liest der Opa im Abspann. Normalerweise dauert sie bis zu zwei Stunden.

Er kippt den Rest seines Müslis in den Mülleimer. Eine halb gerauchte Zigarette wirft er hinterher.

I ain’t nothing but a stranger in this world … Wie viele Fremde gibt es auf dieser Welt, wie viele noch, außer ihm? Oder ist das schlicht jedermanns Refrain?

4.897.114 Mal wurde dieser Clip auf YouTube angeklickt. Eine Zahl, die nicht unbedingt etwas darüber aussagt, wie viele Menschen ihn sich tatsächlich ganz angeschaut haben. 4.897.114 von derzeit cirka 7,3 Milliarden. Selbst wenn 7 Milliarden von denen sich das ansehen, denkt der Opa, würde das irgendetwas ändern? Und ist geneigt, einen Kasten Bier darauf zu wetten, dass nicht einer von denen in der Gefängnisverwaltung von Guantánamo sitzt. Oder im Vatikan. Im Weißen Haus. Oder im Bundeskanzleramt (okay, da ist das Internet ja schließlich auch Neuland).


Wie auch immer – der Arbeitstag des Opas beginnt. Er wirft einen Blick in seinen Terminkalender. Es gibt die eine oder andere geplante Lesung. Für die noch Texte geschrieben werden müssen.

Im Oktober soll der Opa im Rahmen des KölnComedyFestivals lesen.

Da sollte er wieder einen lustigen Text abliefern.

Okay, denkt der Opa, den muss ich ja nicht unbedingt heute schreiben, und dreht sich eine neue Kippe.

Riecht wirklich gut, der Lavendel.


Hier ist der Link zu Mos Defs Video.


Ich bedanke mich bei Andrea Böhm.

Und bei Yasiin Bey.


’ne schöne Jrooß - Rich